Hatıra dalgaları

Aylin Algür – Zwischen Welten und Erinnerungen
Die deutsch-türkische Künstlerin Aylin Algür (*1996, Berlin), lebt und arbeitet in Berlin, bewegt
sich in ihren Arbeiten zwischen Tradition und Moderne, Intimität und Gesellschaftskritik. Ihre Kunst
ist tief in ihrer persönlichen Lebenswelt verwurzelt und schöpft aus der Verbindung von Identität,
Herkunft und Erinnerung. Nach einem Studium der Kunst an der Universität der Künste (UdK) und
der Biologie an der Freien Universität (FU) Berlin von 2015 bis 2023 sammelte sie prägende
Erfahrungen an den Schnittstellen verschiedener kultureller und künstlerischer Traditionen.
Längere Aufenthalte in Lissabon und Istanbul erweiterten ihren Blick auf das Zusammenspiel von
Heimat und Fremde.
Aylin Algürs Werk bewegt sich zwischen der Sichtbarmachung persönlicher Themen und
universellen Fragestellungen. Ihre Arbeiten behandeln zwischenmenschliche Beziehungen,
gesellschaftliche Dynamiken und die Wahrnehmung von Herkunft. Besonders in den letzten
Jahren hat sie sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Erinnerungen das Selbst und unsere
Verbindung zur Welt formen. Dieser rote Faden zieht sich durch ihre aktuelle Ausstellung
„Hatıra“, was im Türkischen „Erinnerung“ bedeutet.
In „Hatıra“ nähert sich Algür der Fragilität und Vielschichtigkeit von Erinnerungen. Ihre Tuschearbeiten,
die einen zentralen Teil der Ausstellung ausmachen, bestehen aus organischen,
bündelartigen Strukturen. Die repetitiven Formen erinnern an Netzwerke oder Gewebe und
symbolisieren die tiefe Verflochtenheit von Erinnerungen – nicht nur untereinander, sondern auch
mit der Gegenwart und Zukunft. Die Strukturen entfalten sich auf den Leinwänden, fließen
ineinander und scheinen teilweise aus ihnen hinauszutreten. Zusammengefügt entstehen
mosaikartige Kompositionen, die wie ein vielschichtiges Gedächtnis wirken: ein Geflecht aus
Eindrücken, die sowohl das Individuelle als auch das Kollektive ansprechen. Die Arbeiten laden
durch ihre Installation zum Interagieren ein und eröffnen den Betrachtenden Raum, sich selbst und
ihre eigene Erinnerungsebene im Werk zu entdecken.
Die zweite Werkgruppe, „Hatıra Dalgaları“ (türk. Wellen der Erinnerung), greift dieses Thema in
einer anderen Dimension auf. Mithilfe der japanischen Shibori-Technik, bei der Stoffe durch
Faltungen und Färbungen mit Mustern versehen werden, schafft Algür Textilarbeiten von
bedeutsamer Tiefe und Dynamik. Ergänzt werden diese durch feine Stickereien, die wellenartige
Formen und organische Muster zeigen. Die Arbeiten erinnern an die Oberfläche von Wasser,
dessen Wellen sich überlagern und interferieren – eine Metapher für Erinnerungen, die sich
ständig verändern, überschneiden und in Schichten existieren. Blau dominiert die Werke und
schafft nicht nur visuelle Tiefe, sondern verweist symbolisch auf Wasser als Ursprung und
allgegenwärtiges Element des Lebens. Gestickte und geschriebene Texte, die auf den Stoffen zu
sehen sind, erscheinen verwaschen und kaum lesbar – ein Sinnbild für die Flüchtigkeit und
Fragmentierung von Erinnerungen. Der Arbeitsprozess selbst ist für Aylin Algür ein zentraler
Bestandteil ihrer Kunst. Die manuelle Wiederholung, die in den Textilwerken steckt – das Falten,
Färben und Sticken – erinnert an traditionelle Hausfrauenarbeit und besitzt für die Künstlerin eine
emotionale und beinahe meditative Qualität. Diese Verbindung von traditionellem Handwerk und
moderner Konzeptkunst spiegelt sich auch in den thematischen Ebenen der Werke wider:
Erinnerungen, die uns prägen, wurzeln in Traditionen und entfalten sich in der Gegenwart neu.
Mit „Hatıra“ schafft Aylin Algür einen Raum, in dem Nähe und Ferne, Vertrautes und Fremdes,
Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen. Ihre Arbeiten laden dazu ein, über die
eigene Erinnerungswelt nachzudenken und gleichzeitig in die universellen Themen einzutauchen,
die uns alle prägen. In der subtilen Verbindung von Tiefe und Oberfläche, von Sichtbarkeit und
Verborgenem, schafft Aylin Algür ein Werk, das nicht nur berührt, sondern auch nachhaltig in
Erinnerung bleibt.

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